DECRUSTATE
Die Wahrheit liegt offen da
Anneli Ketterer im Gespräch mit Helga Filter, 2015
in memoriam H.W. Morsbach
H.F. In der DECRUSTATE Basis Berlin ist permanent eine interkontinentale Auswahl deiner Arbeiten zu sehen: DECRUSTATIONEN von Sanddünen, Industriebrachen, Trockenflussbetten aus Afrika, Amerika, Europa und Asien, auf Glas montiert. Auch ein Stück des ehemaligen Todesstreifens in Berlin-Friedenau. Du nennst deine Arbeiten DECRUSTATE. Was ist darunter zu verstehen?
A.K. DECRUSTATE sind Objekte der Erde, genauer: Objekte aus original Erdoberflächen. Etymologisch leitet sich das Wort DECRUSTAT von dem lateinischen Verb decrustare, »schälen« her. Ich war auf der Suche nach einem beschreibenden Namen für diese neuen Arbeiten. 1992 kam ich in die Wüste Namib im südlichen Afrika. 2000 begann ich dort, eine Technik zu entwickeln, um die obersten Schichten von Erdoberflächen vor Ort zu fixieren und sie dann im Original ihrem Ursprungsort zu entnehmen. So werden Boden(in)formationen festgehalten, die in ihrer Struktur von den Elementen, hauptsächlich von Wind und Wasser, doch auch von Flora und Fauna geprägt sind, von Gras, Spinnen, Elefanten und Menschen. Durch das Leben in der Namib und genaue Naturstudien des dort vorkommenden Wüstennebels habe ich entdeckt, dass das Nebelwasser Erdoberflächen bindet, ohne sie zu verändern. Natürlich ist diese Bindung nur temporär, schnell beendet durch Sonne und Verdunstung. Ich habe gelernt, den Nebel zu imitieren, wobei ich einen speziellen Kleber für eine dauerhafte Bindung verwende. Im selben Jahr noch arbeitete ich in Amerika in der Chihuahua Wüste, in den Rocky Mountains und dem Colorado Plateau. Es war nicht einfach, einen geeigneten Kleber zu finden. Heute arbeite ich mit dem chemischen Labor eines Bindemittelherstellers zusammen. Ich habe die Technik kontinuierlich weiterentwickelt, um nun unterschiedlichste Materialien in verschiedenen Milieus festigen zu können. Inzwischen gelingt es mir, dünne Krusten von fünf Millimetern so abzunehmen, dass ich auch größere Formate (plus 12 m²) erstellen und transportieren kann. Dabei ist es mir wichtig, die Werke der Erde selbst, ohne Veränderung in den Vordergrund stellen zu können. Ich bringe ihre eigene unübertroffene Ästhetik zur Geltung. Der Ursprünglichkeit und Wahrhaftigkeit, der Perfektion des Schöpfungsprozesses habe ich nichts hinzuzufügen. Ich entnehme Erdmaterial minimal invasiv aus einer nicht versiegenden Quelle, bin sozusagen als kleines nachhaltiges Tagebauunternehmen unterwegs. Boden scheint so selbstverständlich, dass man seine fundamentale Bedeutung meist komplett übersieht. Ihn ins Bewusstsein zu rücken, ist eine echte Herausforderung. Ich ermögliche einen direkten Zugang, indem ich ihn auf Augenhöhe bringe. Wir brauchen diese direkte Verbindung, die körperliche Verbindung zu Erde: Weltweit fragen die Menschen zu allererst, ob sie die DECRUSTATE berühren dürfen…
Über die Wirkung der DECRUSTATE auf den Betrachter habe ich viel erfahren können. Es ist spannend, was beim Betrachten passiert, wenn man allzu Selbstverständliches vom Boden wegzieht und den Betrachtungswinkel um nur 90 Grad verschiebt, den Boden also erhöht, in den Vordergrund bringt. Die vier Elemente Wind, Wasser, Feuer und Erde wirken überall auf der Welt ähnlich. Also sprechen DECRUSTATE eine universell verständliche Sprache, die jeder Mensch verstehen kann. Sie berühren uns im Innersten, befrieden die Sinne und stimulieren gleichzeitig den Kopf. Oft nenne ich meine Arbeiten auch »Spiegel«, da die Muster und Strukturen der Haut der Erde auch auf unserer Haut sichtbar sind. In der Iris spiegelt sich das ganze Universum. Das kosmische Prinzip der Analogie »Wie im Großen so im Kleinen« ist ein Thema, das sich durch meine ganze Arbeit zieht.
Genau beobachten
H.F.: Das genaue Beobachten der Natur war die Ausgangsbasis deiner künstlerischen Arbeit. Du hast von 1989 bis 1992 an der Akademie der Bildenden Künste in München bei Prof. Klein Multi Media studiert und parallel dazu vom Max-Planck-Institut in Seewiesen, wo Konrad Lorenz seine wilden Gänse untersuchte, Anschauungsmaterial für deine Naturstudien erhalten. Wie kam es zu diesem Interesse?
A.K.: Stark geprägt haben mich sicher die Jahre ab meinem vierten Lebensjahr, die ich oft allein in der Natur am Starnberger See verbrachte. Eine bezaubernde Gegend! Die Elemente und Jahreszeiten ständig im Wandel, spannend… Später haben mich dann neben manch anderem die Kämpfe um Wackersdorf und die Katastrophe in Tschernobyl erschüttert. Der zerstörerische Umgang des Menschen mit sich selbst und der Erde hat mich schon sehr früh beschäftigt. Dann folgte ein Jahr Leben auf See, auf einem alten Segler, in ständiger Auseinandersetzung mit den Elementen Wasser und Wind. Während des Studiums stand die Suche nach einer künstlerischen Darstellung von Form und Funktion in der Natur und von Mikro- und Makrostrukturen im Vordergrund. Das letzte Semester verbrachte ich nur noch mit Arbeiten in der Natur selbst, unter anderem im Kontext von Land art. Doch die Wiege der DECRUSTATE-Arbeit steht in der Wüste Namib in Namibia. 1992 wurde ich vom Max-Planck Institut als wissenschaftliche Zeichnerin und Forschungsassistentin ans ökologische Wüstenforschungsinstitut Gobabeb geschickt. Das Leben in der Wüste hat meine konstruktive Anbindung an die Natur verstärkt. Ich blieb dort… Eine unglaublich starke und zugleich sehr sensible Umwelt, immer extrem. Tiefe Verbindung zu spüren und zu entwickeln veränderte mich grundlegend; wie mich der Boden unter meinen Füßen beim Barfußgehen in der Wüste berührt. Erde wurde meine zweite Haut, wurde Schutz. Ich fing an, mit Erdmaterialien zu experimentieren. Doch erst nach vielen Jahren Erfahrung, Übung und Schärfung der Sinne in der Wüste begann ich, Stücke von Dünenoberflächen zu festigen, um diese als natürliche ready-mades ausstellen zu können: ground truth.
Einheit begreifen
H.F. Du bist Mitbegründerin des ersten grass roots-Umweltzentrums in der Wüste Namib. Das Engagement für Umweltprojekte und die enge Zusammenarbeit mit der indigenen Bevölkerung auch später in Amerika gehören zu deiner Arbeit. Wie hat sich das entwickelt, und was war dir dabei wichtig?
A.K. Im namibischen Forschungsinstitut Gobabeb lernte ich Einheimische kennen, die wie ich an Menschen und Umweltarbeit in der Wüste interessiert waren. Später gründeten wir das erste nicht staatliche Umweltzentrum GECCO (Group for Environmental and Creative COnsciousness), eine von Bürgern ausgehende Stiftung für Namibia. In einem sehr von der Apartheit beeinflussten Land standen die Förderung der Eigeninitiative der Menschen und kreative, umweltpädagogische Projekte im Vordergrund. Ich war für die kreative Seite der GECCO-Projekte verantwortlich. Wir unternahmen unter anderem extreme Wüstenwanderungen mit namibischen Jugendlichen aus den Townships, um diese so nah wie möglich an die Natur heranzuführen. Die Natur ist nun einmal die beste Lehrmeisterin…
Später wurden wir aktiver Teil der Initiative NEEN (Namibian Environment Education Network). Ab 1995 begann dann die mobile Fortsetzung meiner kreativen Umweltprojekte, ich lebte mehr und mehr das Leben einer Nomadin. Das Leben mit Tieren, vor allem den Wüstenelefanten, und den Menschen der Wüste Namib hat mich tief geprägt. Auch im Südwesten der USA arbeitete ich eng mit der Urbevölkerung – den Diné – zusammen. Während einer dreimonatigen DECRUSTATIONS-Phase wohnte ich in einem Reservat in einem Hogan, einem traditionellen Rundhaus. Die Diné erlaubten mir, Stücke von ihrem heiligen Grund und Boden zu entnehmen. Bei der Arbeit auf und mit Böden wird man unweigerlich auch mit sozialen und politischen Aspekten der Bodenthematik konfrontiert. Mit der Ausstellung earth for sale 2002 in Windhoek wurden Landbesitz und Landverteilung zu immanenten Themen meiner Arbeit. Nach einer Tradition der San (Ureinwohner des südlichen Afrika) kann man nur besitzen, was man auf eigenen Schultern tragen kann. Dementsprechend biete ich als (Im)Mobilienmaklerin DECRUSTATE als einzig wahren Grundbesitz an. 2003 nahm ich mit dieser Präsentation auch am Weltgipfel für Nachhaltige Entwicklung in Johannesburg teil. Wesentlich sind Begegnungen mit den Menschen vor Ort, sie haben unmittelbaren Einfluss auf die Arbeit. Als ich palästinensische Künstlerkollegen bat, Erdstücke zu wählen, die die herrschenden Umstände in weltweiten Ausstellungen am bestem repräsentieren könnten, entschieden sie sich für leere Rahmen. Das spricht Bände. So sehe ich DECRUSTATE auch als Botschaften der jeweiligen Gegenden. Ich darf viel lernen, es ist sehr intensiv! Auch spirituell…
H.F. Was genau meinst du mit spirituell?
A.K. Intensive Auseinandersetzung mit mir selbst in der Natur, oft für Wochen alleine (all ein…), ist Teil der Arbeit. Dies sind oft hoch energetische Erlebnisse. Die Wüste zum Beispiel hält dir ständig einen Spiegel vor, du kannst dir selbst nicht entkommen. Allein-sein heißt konstante Selbstreflexion. Mit gutem Grund sind einige Weltreligionen, gerade die Abrahamitischen – Judentum, Christentum und der Islam – vom Wüsten(er)leben geprägt. Ich habe enorm viel gelernt in den Jahren: mich selbst zurückzustellen, um Einheit zu begreifen. Respekt vor dem Leben, hohe Aufmerksamkeit, Bescheidenheit, auch Dankbarkeit, Menschlichkeit, das rechte Geben und Nehmen gehören dazu. Da draußen im Spiel der Elemente Wind, Wasser, Sonne während meiner Arbeit an den DECRUSTATEN bin ich nicht »Herrin der Lage« … wunderbar! Ich entnehme, was präsent ist in Raum und Zeit. Ich erlebe die Extreme der Natur und brauche keine zusätzliche Unterhaltung. Die Produktion von Adrenalin wird auf natürliche Weise angeregt. Ich lebe aus erster Hand und nicht »second Hand«, lebe den Moment. Und ich bin auf das wirklich Wesentliche im Leben reduziert. Deshalb sind mir Wirklichkeit und Wahrheit in meiner Kunst so wichtig.
Ich lernte eine vielschichtige Verbundenheit und ganz besonders Erdverbundenheit kennen. Diese Verbundenheit, die innere Verbindung des Menschen zur Um- bzw. Mitwelt sichtbar zu machen, wurde zu meiner Arbeit.
H.F. Seit 1996 lernst du animistischen Tanz bei Koffi Koko, ein Begründer des modernen afrikanischen Tanzes. Gehört das auch zum spirituellen Teil deiner Arbeit?
A.K. Tanzen unterstützt die körperliche Sensibilisierung, Beweglichkeit, Balance und eine bewusste Körperhaltung. Der DECRUSTATIONS-Prozess ist körperlich sehr fordernd: Mitunter trage ich teils schwere und zerbrechliche Erdplatten auf dem Kopf aus dem oft sehr stürmischen Spiel der Elemente viele Kilometer bis zum Camp. Es ist gut, dafür einen Rhythmus zu finden. Doch nur die Verbindung von Körper, Geist und Seele macht mich glücklich, wirklich zufrieden! Tanz ist definitiv eine Verbindung dieser drei Aspekte. Das körperliche Spüren wird heute immer wichtiger, auch in der Kunst. Koffi weiß um die Kopflastigkeit hierzulande: Der Kopf darf auch mal zurücktreten… Im afrikanischen Tanz spielt die Bodenarbeit eine zentrale Rolle. Der Boden hat nicht nur eine tragende Rolle, sondern ist eine wichtige Energiequelle. Du drückst dich nicht vom Boden weg, sondern gehst in ihn hinein, um Körperspannung wie eine Sprungfeder in neue Bewegung zu verwandeln. Erdung durch Tanz ist Teil meiner interdisziplinären Beschäftigung mit Materie.
Ready-mades natürlichen Ursprungs
H.F. Noch einmal zurück zu deinen Objekten. Du bezeichnest sie als ready-mades im Sinne Marcel Duchamps, erweiterst aber den Begriff zu ready-mades natürlichen Ursprungs. Wie triffst du die Auswahl? Und warum gibst du als Titel nicht Namen der Ursprungsländer, sondern die Längen- und Breitengrade, an denen die jeweiligen Arbeiten entstanden sind?
A.K. Die Bezeichnung ready-mades natürlichen Ursprungs stellt den Unterschied zu den industriell gefertigten Objekten, die Duchamps als Kunstwerke proklamierte, heraus. Ich präsentiere die an einem bestimmten Ort und in einem bestimmten Moment vorgefundenen, lediglich fixierten und entnommenen Erdstücke als Kunstobjekte in Ausstellungen. Dieser Vorgang, die global herausgeschälten Erdoberflächen als DECRUSTATE in einem anderen Kontext zu verorten, gibt ihnen eine erweiterte Bedeutung; einen Wert, der einen neuen, umfassenderen Blick auf sie ermöglicht. Das führt zu einer Zusammenarbeit mit dem Betrachter, der selbst zum Teil der Arbeit wird. Dadurch entsteht auch ein Rückkopplungseffekt, was mich fortwährend schult und zu neuen Projekten inspiriert.
Das Thema Boden ist extrem komplex – so komplex wie das Leben selbst, das sich in und auf dem Boden abspielt. Und natürlich schließt es auch Prozesse wie den Zyklus von Entstehen und Vergehen ein. Wie wähle ich nun aus? Die regionale Auswahl der DECRUSTATIONS-Gegend, der natürlichen Ateliers, wie ich sie nenne, treffe ich erst einmal konzeptionell, oft wissen- und wissenschaftsgetrieben. Ich studiere Satellitenbilder, benutzt Google Earth. Inzwischen habe ich gelernt, spezifische Aufnahmen von Erdoberflächen und Formationen zu interpretieren. Doch ich bin offen: Oft gehe ich regionalen Empfehlungen nach, oder Auftragsarbeiten eröffnen neue Ateliers, die ich nie einbezogen hätte. Vor Ort komme ich dann zum so genannten »ground truthing« – ein Begriff aus der Wissenschaft, den ich als Untertitel für meine Arbeit verwende: Nun erkunde ich das Gelände, gelange auf den Boden der Wirklichkeit zurück. Vor Ort wähle ich natürlich aus vorhandenen Erdoberflächen situativ aus. Oft aber entscheide ich mich intuitiv für diesen oder jenen Quadratmeter. Ich habe gelernt, meiner Intuition zu vertrauen, sie ist Teil des Überlebens.
Es gehört zur Konzeption, interkontinental zu arbeiten, um global DECRUSTATE verschiedener Gegenden thematisch zusammenzustellen. In Afrika habe ich vorwiegend sehr altes Material, beige-braune bis rote Bodenoberflächen decrustiert. In Nordamerika arbeitete ich im White Sands National Monument: Hier durfte ich Sandoberflächen aus sehr jungem, weißem Selenit, der kristallinen Form von Gips aufnehmen. Als Artist in the Park wurde ich an den Great Sand Dune National Park weiterempfohlen. Dort fand ich ein Dünenfeld auf 3000 m Höhe mit sehr viel schwarzem Magnetitsand. Die Arbeit so hoch oben, die starken Winde, die große Nässe und auch Schneestürme wurden zur bisher größten körperlichen und technischen Herausforderung. Ich lernte, dass Extreme wie diese die unglaublichsten Erdoberflächen produzieren. Dem Reservat der Diné (Navajos) beim Monument Valley Tribal Park entnahm ich schließlich Oberflächen aus rotem Schluff, einem extrem feinen, daher sehr schwer zu decrustierenden Sandmaterial. Angelehnt an die Philosophie der American First Nation entstanden hier auch die ersten runden DECRUSTATE. In Europa decrustierte ich auch Mutterböden, Industriebrachen oder Erdstücke, die sich mit meiner eigenen Geschichte als Europäerin beschäftigen, wie die DECRUSTATION auf dem ehemaligen Todesstreifen in Berlin. Und dann nehme ich Erde von erodierten Mauern eines untergegangenen Imperiums in Westafrika, des Königreichs Dahomey, heute UNESCO Welterbe. Die Könige verkauften ihre Kriegsgefangenen an europäische Händler, die sie dann zu den Sklavenschiffen brachten. Ich entnehme ein Stück des letzten Wegs dieser Gefangenen auf afrikanischem Boden, heute UNESCO Kulturerbe.
Die Längen- und Breitengrade als abstrakte Werktitel sind objektive Bezeichnungen der Orte und daher unbelastet. Ich verwende keine Ländernamen, da nationale Grenzen häufig Resultate von Willkür und ökonomischen Interessen sind. Die vier herrschenden Elemente kennen diese Grenzen nicht.
Kunst und Wissenschaft verbinden
H.F. Welche Projekte waren in den letzten Jahren wichtig für Dich?
A.K. Nach Berlin zu kommen war ein wichtiger Schritt. Hier habe ich die permanente Basis meines mobilen Unterfangens eröffnet. Nun gibt es Lagerräume und meine Ausstellungsräumlichkeiten, die ich gerne für Interessierte öffne. Berlin tut mir gut, meine Nachbarschaft ist unglaublich!
2009 wurde ich eingeladen, meine Arbeit in den Vereinigten Arabischen Emiraten zu präsentieren, das war wirklich spannend, ich war das erste Mal mit Taxi und Stöckelschuhen beim Decrustieren… Die Wüstenböden des Nahen und Mittleren Ostens, am Fundament der abrahamitischen Religionen interessieren mich sehr. Ich möchte den zukünftigen Fokus meiner Arbeiten auf weltweite Gemeinsamkeiten von Menschen legen, anstatt Unterschiede herauszuarbeiten.
Im Oktober 2011 vermittelte Bernd Dreßen einen bewegenden Arbeitsbesuch in Palästina, eine erste Begegnung mit Künstlerinnen und Künstlern aus Ramallah im Westjordanland. Dabei traten wieder die sozial-politischen Seiten der Arbeit mit Boden in den Vordergrund. Okkupation, Besitzergreifen von Land, Land Grabbing sind Themen, mit denen ich natürlich vor Ort konfrontiert werde, und die ich mit DECRUSTATEN thematisiere.
Die Verbindung zwischen Kunst und Wissenschaft liegt mir am Herzen. Im Deutschen Technikmuseum in Berlin war in der Sonderausstellung über Wind mit dem Titel Windstärken unter anderem das bisher größte DECRUSTAT red carpet, 8 m x 1,5 m, integriert. Und ich stelle im Rahmen verschiedener Initiativen aus, wie zum Beispiel bei der jährlichen »Langen Nacht der Wissenschaften« oder der Global Soil Week in Berlin.
2011 begann ein Filmprojekt gemeinsam mit Arteminent aus München. Auf Industriebrachen in Franken fanden erste Aufnahmen von lokalen DECRUSTATIONEN statt, auch auf einer Wanderdüne eines ehemaligen Truppenübungsgeländes südlich von Berlin, die als Raketenübungsplatz vegetationslos blieb. Ein Jahr später mündete diese Zusammenarbeit in einer Arbeitsreise mit einem 7,5 Tonner voll Umzugsgüter von Deutschland nach Mali und einer umfassenden Filmmaterialsammlung über DECRUSTATIONEN in Nordafrika, der Sahara und Sub-Sahara. Was für ein Trip! Wir haben tolles Material gesammelt, Erd-, wie auch Filmmaterial. Einiges ist schon auf Youtube oder meiner Website zu sehen!
Mit Bernd Dreßen, Dramaturg und Projektmanager, widme ich mich seit Jahren der Konzeption eines Festivals im Spannungsfeld von Kunst und Erde. Es soll künstlerisch, interdisziplinär, interkulturell und partizipativ die komplexen und vielschichtigen Beziehungen von Mensch zu Erde erkunden. Da kommen viele interessante Leute zusammen, wie etwa die Bodenkundlerin und Künstlerin Alexandra Toland, die gerade ihre interdisziplinäre Doktorarbeit über Kunst und Böden fertig gestellt hat. In diesem Zusammenhang initiierte Frau Toland einige weltweite Boden-Kunstprojekte, wie zum Beispiel eine Poster-Ausstellung von Boden-Künstlerinnen und Künstlern während des Weltkongresses der Bodenwissenschaften 2014 in Jeju, Korea. Oder ein Buch im Rahmen des gegenwärtigen Internationalen Jahr des Bodens, das im globalen Horizont Arbeiten von Boden-Künstlern mit Arbeiten von Boden-Wissenschaftlerinnen zusammen bringt.
Auch die Fertigstellung meiner Webseite war extrem wichtig. In Zusammenarbeit mit dem Team von Pixelchiefs, Berlin ist sie im Dezember 2014 online gegangen. Ein großes Vergnügen und eine große Ehre vor kurzem war, den 25. Unabhängigkeitsjahrestag Namibias mit der Namibischen Botschaft hier in Berlin zu begehen. Auf der Bühne war eine Gruppe namibischer Erden anwesend, also der Boden, für den auch die Botschaft Verantwortung trägt…
Ein Festival der Erde
H.F. Womit beschäftigst du dich gegenwärtig? Und was ist in Planung?
A.K. Ich bräuchte sieben Leben, einige Mäzene und ein weltweites Netz, um alle vorhandenen Ideen zu entwickeln und zu verwirklichen… In der Arbeit liegt ein beträchtliches Potenzial, dessen Umsetzung ich nicht allein bewältigen kann und will. Zum Glück begegne ich immer mehr Menschen, die sich mit der Arbeit an DECRUSTATEN verbinden und aktiv werden. Mittlerweile ist das Kunst/Erde-Festival zum Konzept einer weltweiten, nomadisch produzierenden, ausstellenden und aufführenden Kommunikationsplattform herangewachsen mit dem Fokus, Bewusstwerdungsprojekte für die Erde zu entwickeln und zu teilen. Diese Plattform heißt URSPRUNG. Einen ganzen Raum mit großen DECRUSTATEN zu gestalten war schon immer meine Vision und stellt eine besondere Herausforderung dar: Momentan arbeiten wir an der technischen Entwicklung von 5 m x 5 m DECRUSTATEN. Fünf dieser DECRUSTATE werden im Herzen von URSPRUNG stehen und in der urbanen Öffentlichkeit zuerst als Werbetafeln gezeigt, um größtmögliche Aufmerksamkeit zu erzielen. Dann kommen fünf DECRUSTATE als Bühne zusammen, die transkulturell, interdisziplinär und partizipativ bespielt werden soll. Schließlich werden die fünf DECRUSTATE einen eigenständigen Kubus, einen Raum für Kontemplation bilden. URSPRUNG ist ein höchst komplexes und ambitioniertes Vorhaben, das weltweit wichtige kulturelle Beiträge zur aktuellen Situation des Menschen auf dem Planeten Erde geben wird. Wir möchten die DECRUSTATIONS-Technik weltweit an interessierte Künstlerinnen und Künstler weitergeben, also eine Kunst-Open Source aufbauen, um so global den Boden für weitere Aktionen zu bereiten – ein faszinierender und innerlich stimmiger Gedanke! Inzwischen haben wir großartige Mitarbeiter und Organisationen im Boot: den UNCCD (United Nations Convention to Combat Desertification), internationale Bodenwissenschaftler, den Berliner Senat (u.a. für Städtepartnerschaften), Architekten, den Veranstaltungsdienstleister BTL und Schloss Bröllin International Art Research Location, um nur einige zu nennen. Und wir sind weiter auf der Suche nach Partnern. Dieses Jahr steht die Beschaffung der Finanzen im Vordergrund: um das Organisationsteam zu bestellen, um ein mobiles DECRUSTATE-Atelier (ein geländegängiges Fahrzeug) zu ersteigern und um die Prototyp-Produktion der 5m x 5m DECRUSTATE zu starten. Im nächsten Jahr werden dann die URSPRUNG DECRUSTATE erstmals vollständig in Namibia produziert, was die Plattform für das Festival bereitet, um dann zur weiteren Produktion und Performance nach Berlin zu kommen. Dann kann URSPRUNG auf Einladung weltweit agieren, um Böden zu Bühnen zu gestalten und lokale Initiativen zu einem Festival der Erde zu bündeln.
Derzeit bauen wir die Zusammenarbeit mit Architekten und Innenarchitekten aus, um Kunst- und Architekturprojekte zu realisieren. URSPRUNG soll sich durch den Verkauf von DECRUSTATEN selbst finanzieren. Es gibt ein paar international arbeitende Architekturbüros, die DECRUSTATE kennenlernen sollten. Wir haben weitere interessante Konzeptionen, die ebenfalls mit der technischen Entwicklung großer DECRUSTATE zusammenhängen. Hier möchten wir vor allem an die ökologische Unternehmensverantwortung von Firmen appellieren, die mit Böden arbeiten.
Ich selbst möchte mich auf geschichtsträchtige Böden konzentrieren; zum Beispiel Berliner Böden aus dem Untergrund ans Tageslicht bringen, da sich dort unten seit langem nichts verändert hat, während an der Oberfläche ganze Staaten entstanden und vergingen.
Für 2021 ist ein sehr anspruchsvolles Multi Media-Projekt in Planung: Zum Gedenken an das Ende des Ersten Weltkrieges wurde ich angefragt, Böden dieser Zeit auf die Bühne zu bringen. Ich soll also aus dem Bodenarchiv des Krieges die letzten Zeugen bestellen… Das Projekt umfasst Bühnen in sieben verschiedenen Ländern Europas.
Wahrhaftigkeit der Erde
H.F. Am Ende unseres Gesprächs möchte ich noch einmal auf den Begriff ground truth in Verbindung mit deinen Werken zurückkommen. Er scheint mir ganz wesentlich zu sein. Mir fällt dabei Max Ernst ein, der meinte, die Wahrheit liege in den Oberflächen. Sie liegt offen da, und deshalb ist sie häufig unsichtbar. Was verbindest du konkret mit diesem Begriff?
A.K. Ground truth wurde der Untertitel meiner Arbeit. Ursprünglich kommt der Begriff aus der Wissenschaft und beschreibt die Notwendigkeit, wissenschaftliche Daten vor Ort zu verifizieren, z.B. bei der Verwendung von Satellitenbildern. Ich nehme nicht das Licht, d.h. ich mache keine Fotos, sondern nehme die originale Materie selbst, die ich vorfinde. Dementsprechend kann kein Bild näher an die Realität herankommen als DECRUSTATE. DECRUSTATE sind, was sie sind. Ich stelle die Wahrhaftigkeit dieser Objekte den virtuellen, medialen Produkten von heute entgegen – eine wichtige Lektion aus meinem Leben in der Wüste.
DECRUSTATE sprechen eine überall verständliche, universelle Sprache, und Sprache sehe ich als einen Teil der Wahrheit: Nur was ich berühren, begreifen und beschreiben kann, ist für mich wirklich existent. Meine Arbeit ist wie eine kleine mathematische Formel: 1m² Erdoberfläche x 1 Sekunde des elementaren Spiels = 1 DECRUSTAT
H.F. Ich danke dir für das Gespräch und wünsche deinen so bemerkenswerten Arbeiten viel Erfolg.
A.K. Ich habe zu danken!